Märchenhelden und Wir

08.02.2022

Märchenhelden und Wir

Als die beiden Hanauer Brüder Jacob und Wilhelm Grimm anfingen Märchen aufzuzeichnen, um daraus ein Buch zu machen, ahnten sie sicherlich nicht, welche Wirkung dieses Werk entfalten würde. Viele Grimmsche Märchen sind heute fast weltweit zu Klassikern geworden, die noch immer jedes Kind kennt: Hänsel und Gretel, Aschenputtel, Schneewittchen und die sieben Zwerge und viele andere Märchen. Heute sehen wir Märchen als eine spezifische Gattung für Kinder an, obwohl Jacob Grimm Anfang des 19. Jahrhunderts das noch ganz anders sah. Er glaubte nicht daran, dass die „Kinder- und Hausmärchen“, wie er sie nannte, tatsächlich für Kinder erdacht und erfunden wurden. Märchen waren eine sehr verbreitete Erzählgattung vor allem für die einfachen und armen Leute, die nicht lesen oder schreiben konnten, aber dennoch ein Bedürfnis nach fantastischen und unglaublichen Geschichten hatten. Da die Kindheit damals noch nicht wie heute als eine von der Erwachsenenwelt abgeschiedene Lebensphase aufgefasst wurde, waren Kinder jedoch meist dabei, wenn man sich an den langen Winterabenden in der Stube vorm Kamin Märchen erzählt hat. Schon früh beobachtete man, dass Märchen Kinder sehr beeindrucken konnten, und dass sich damit auch eine erzieherische Absicht verbinden ließ. Wenn die Mutter das Rotkäppchen ermahnt, nicht vom rechten Weg abzugehen und der Großmutter gegenüber ganz artig zu sein, dann lässt sich das auch als einen pädagogischen Ratschlag für das Kind verstehen, dem dieses Märchen erzählt wird. Und so wurden die Märchen auch schon von den Grimms so umformuliert und weiterentwickelt, dass sie zu einer „pädagogischen Erzählform“ wurden, die bald auch in Kindergärten und Schulen einen festen Platz im Bildungsangebot erhielten. Seit dem 20. Jahrhundert wurden Märchen zunehmend wissenschaftlich erforscht. Die moderne Psychologie hat sich seit Sigmund Freud und Carl Gustav Jung bis heute immer wieder mit Märchen und ihrer entwicklungsfördernden Wirkung beschäftigt. Märchen galten aufgrund ihrer Kürze und Einfachheit, der linearen Erzählstruktur und dem oft glücklichen Ende, bei dem der Märchenheld belohnt und das Böse, sei es die Hexe, die Stiefmutter oder ein böser Zauberer, bestraft wird, als eine besonders kindgerechte Gattung. Oft sind sie „Alleskönner“, „Retter“ oder „Vertreter des Guten“ im Gegensatz zu den Figuren, die man als „Vertreter des Schreckens“ bezeichnen kann. In vielen Märchen werden Schwächen überwunden, Wünsche erfüllt und Lösungen für Probleme vermittelt. Das Kind kann sich in Auseinandersetzung mit dem Märchenstoff entwickeln, daran wachsen. Es kann stellvertretend Konflikte durchleben und zugleich sind Märchen sehr Fantasie anregend. Dennoch standen Märchen immer auch in der Kritik. Konnten Märchen nicht Träume und Fantasien wecken, die im wirklichen Leben niemals einen Platz erhalten würden? Und welche Grausamkeiten präsentieren doch einige Märchen: zum Beispiel die Hexe aus Hänsel und Gretel. Ist das kindgerecht? So zutreffend einen solche diese Kritik auch erscheint, so lässt sich doch zeigen, dass diese wissenschaftlich kaum haltbar ist. Spätestens seit Bruno Bettelheims berühmter Studie „Kinder brauchen Märchen“ von 1975 ist das Märchen unter pädagogischen und psychologischen Gesichtspunkten vollständig rehabilitiert. Heute weiß man: Märchen sind nicht nur unterhaltsam und erfreuen die Leser und Hörer, sondern sind auch fantasieanregend und allein deshalb pädagogisch wertvoll. So ist es auch nicht verwunderlich, dass unsere Kinder der Gemeindekita „Sonnenblume“ in Sülstorf ganz viel Freude daran hatten selbst einmal in die Rolle des Rotkäppchens oder der Hexe zu schlüpfen. Fantasie ist die Macht, welche die Welt schön und erträglich macht.  (Fr. Pose und Team)

 

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